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50 Jahre Zahnärzteblatt

Ausgabe 1/2023

48_FORTBILDUNG

48_FORTBILDUNG ZBW_1/2023 www.zahnaerzteblatt.de 25 Jahre KH-Symposium DER ENTZÜNDETE KIEFERKNOCHEN Nur unterbrochen durch die Coronaviruspandemie hat es in Stuttgart jedes Jahr seit 1996 eine Herbsttagung der Bezirkszahnärztekammer Stuttgart als KH-Symposium gegeben, die unter der wissenschaftlichen Leitung der Direktion der Klinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie am Katharinenhospital stattfand. Am 8. Oktober 2022 war es wieder soweit: Um die 170 Teilnehmer*innen versammelten sich in der Alten Reithalle in Stuttgart zum 25. Jubiläums- KH-Symposium an einem goldenen Herbsttag. Fortbildung in Präsenz. Das Auditorium des 25. KH-Symposiums und der Herbsttagung der BZK Stuttgart füllt die Alte Reithalle. Fotos: BZK Stuttgart Der Vorsitzende der BZK Stuttgart, Dr. Eberhard Montigel, eröffnete die Tagung. Dr. Rolf Bublitz, Vorsitzender der mitveranstaltenden Wissenschaftlichen Vereinigung für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde Stuttgart e. V., moderierte. AUSTRALISCHER LUNGENFISCH Prof. Dr. Dr. Peter Gängler, Witten-Herdecke, berichtete, dass es 2021 gelungen sei, das bisher größte bekannte tierische Genom zu entschlüsseln, und zwar das des Australischen Lungenfischs. Diesen Lungenfisch gebe es noch heute, er sei aber schon aus der Zeit von vor 300 Millionen Jahren bekannt, also quasi ein lebendes Fossil. Alle dem Lungenfisch phylogenetisch nachfolgenden Lebewesen, darunter auch der Mensch, hätten sich für die Ausstattung ihrer Dentition aus dem Fundus dieses Urzeitgenoms bedient, so Prof. Gängler. Das Entstehen eines Pulpa-Dentin-Komplexes, die in Alveolen verankerten Zähne sowie den Schmelz verdanke der Mensch dem Riesengenom dieses Lungenfischs. Auch der Ablauf von Entzündungen im Pulpa-Dentin-Komplex folge alten phylogenetischen Mustern. Mit dem Übergreifen auf das apikale Parodont führe die Entzündung zur Osteoklastenaktivierung, zu Knochenabbau und zur Osteomyelitis. Die chronische apikale Parodontitis sei der typische Ausdruck langfristig unterhaltener resorptiver und proliferativer Entzündungsformen, die sowohl den Hartgewebsersatz durch Granulationsgewebe als auch die Apposition von Zement und Knochen be inhalten könne. Der Turnover des menschlichen Kiefers sei hoch, so liege die „Bone formation rate“ in der Maxilla bei ca. 19 Prozent pro Jahr, in der Mandibula bei ca. 37 Prozent pro Jahr, hingegen im Femur nur bei ca. 6,5 Prozent pro Jahr. ODONTOGENE ENTZÜNDUNGEN Ein Unikat unter den Knochen ist der Kiefer auch wegen des Vorhandenseins der Zähne als hauptsächliche Eintrittspforten für Infektionen. Dr. Tomas Lang, Essen, schilderte, wie die moderne Endodontie verlässliche Therapieergebnisse ermöglicht. Die Voraussetzung sei die exakte Darstellung und Kenntnis der Anatomie des Wurzelkanalsystems. Diese ergebe sich aus der detaillierten Darstellung der Wurzelkanäle mittels der Low-Dose-Volumentomografie (DVT). Mittels einer virtuellen Therapieplanung lassen sich minimal dimensionierte Trepanationsöffnungen anlegen und die Instrumentierung der Kanäle unter dem

ZBW_1/2023 www.zahnaerzteblatt.de 49_FORTBILDUNG Osteomyelitis. Prof. Dr. Dr. Benedicta Beck- Broichsitter, seit dem 1. Januar 2022 Ärztliche Direktorin der Klinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie, plastisch-ästhetische Operationen und Zentrum für Implantologie des Klinikums Stuttgart im Katharinenhospital. OP-Mikroskop mit elektronischer Längenmessung durchführen. So sei der Zahnerhalt trotz eines ausgeräumten Pulpa-Wurzelkanalsystems bei guter Wurzelfüllung durch den Halt des Zahnes im vitalen Alveolarknochen und Parodont möglich und der Kiefer vor weiterer Entzündung geschützt. OSTEOMYELITIS DER KIEFER Die neue Ärztliche Direktorin der Klinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie am Klinikum Stuttgart im Katharinenhospital, Prof. Dr. Dr. Benedicta Beck-Broichsitter, referierte über die schweren Krankheitsbilder durch Knochenentzündungen. Sie schilderte die Klinik und Diagnostik der klassischen Osteomyelitis und ihrer Verlaufsformen. Eine akute bakterielle Entzündung des Knochens führe durch erhöhten intramedullären Gewebedruck zur Durchblutungsreduktion, Mikrozirkulationsstörung und Hypoxie des Knochens. Entzündliche Reaktionen des Knochengewebes verursachen dann Abszesse, Osteolysen, Fisteln und Sequester. Bei der chronischen Form der Osteomyelitis – ab einer Krankheitsdauer von ca. vier Wochen – seien auch Periostverdickung, Neoosteogenese und Sklerose kennzeichnend. Über die jeweilige Verlaufsform entscheide einerseits die Anzahl der Pathogene und Toxine sowie deren Virulenz und andererseits die lokalen und systemischen Immunantworten und die Perfusion des Knochens. Mikrobielle Biofilme seien wahrscheinlich die Ursache für hartnäckige Verläufe der chronischen Osteomyelitis. Klassische Symptome, die auch der Zahnarzt und die Zahnärztin erkennen sollten, seien die Kardinalsymptome der Entzündung, freiliegender Knochen, Fieber, regionale Lymphadenitis, pathologische Unterkieferfrakturen, Okklusionsstörungen und erhöhte Zahnbeweglichkeit sowie das Vincent-Syndrom. Die Behandlungen erfolgen in Fachkliniken durch Inzisionen und Drainagen, Fokussanierung und Debridement oder durch Dekortikationen und unter Umständen Resektionen sowie durch eine Antibiose. Wenn notwendig, muss der Kiefer rekonstruiert werden. Hierzu zeigte Prof. Beck-Broichsitter eindrucksvolle Bilder mikrochirurgischer Rekonstruktionen von Unterkiefern durch gefäßgestielte Fibulatransplantate, wie sie im Katharinenhospital häufig durchgeführt werden. VORSICHT GEBOTEN Prof. Dr. Dr. Sven Otto, Ordinarius an der LMU München, betonte den Wissenszuwachs auf dem Gebiet der Antiresorptiva-assoziierten Kiefernekrosen (ARONJ) in den letzten zehn Jahren: So sei nunmehr erwiesen, dass es ursächlich die Entzündungen seien, die ein saures Milieu schaffen und damit die Freisetzung der Bisphosphonate bewirken und als Auslöser für die Entwicklung der Kiefernekrosen gelten. Hatte man in der Vergangenheit die chirurgischen Eingriffe als ursächlich für die Entstehung der Knochennekrosen durch Bisphosphonate angesehen, habe sich das geändert. Heute sei daher die chirurgische Intervention die beste Methode, um eine Heilung zu erreichen. Für die Zahnärzteschaft sei es wichtig, auf dem Anamnesebogen gezielt nach antiresorptiven Medikamenten zu fragen und dieses bei der mündlichen Anamnese zu wiederholen. Man müsse diese Risikopatienten sicher identifizieren, um dann zahnärztlich richtig vorgehen zu können. Ganz wichtig sei es, die entzündlichen Zustände vor Beginn einer Antiresorptiva-Therapie zu beseitigen, so Prof. Otto. Neben den Bisphosphonaten sind es monoklonale Antikörper wie Denusomab, die eine ARONJ auslösen können. BESTRAHLTER KIEFERKNOCHEN Auch ein bestrahlter Kieferknochen sei in seiner Abwehrkraft und Fähigkeit zur Remodellierung beeinträchtigt und durch Infektionen gefährdet. Die Pathogenese einer Radionekrose der Kiefer unterscheide sich von der oben beschriebenen bei der ARONJ, aber das klinische Bild – nämlich nicht heilender frei liegender Knochen mit Superinfektionen – sei bei beiden Entitäten ähnlich. Der entscheidende kausale Faktor bei der Osteoradionekrose sei die Reduktion der Durchblutung des Kiefers durch die Bestrahlung und die damit einhergehende Unfähigkeit zur Remodellierung. Auch hier sind Sanierungen aller möglichen Infektionsquellen in der Mundhöhle zur Vermeidung von späteren Eingriffen vor der Radiatio notwendig. Diese sollten rechtzeitig und in deutlichem Abstand zur Bestrahlung erfolgen. QUINTESSENZ In der lebhaften Diskussion der Vorträge zeigte sich dann, dass es vor allem die Chemonekrosen der Kiefer durch Antiresorptiva sind, welche die Zahnärzteschaft in der Praxis am meisten beschäftige. Die Rückmeldungen von den Kolleg*innen ließen darauf schließen, dass es auch zum 25. Male gelungen ist, im KH-Symposium ein praxisrelevantes Thema synoptisch umfassend darzustellen. Dr. Rolf Bublitz, Tübingen Referent*innen mit Gastgebern. Dr. Eberhard Montigel, Vorsitzender der BZK Stuttgart, Prof. Dr. Dr. h. c. Peter Gängler, Univ. Witten-Herdecke, Dr. Tomas Lang, Essen, Univ. Prof. Dr. Dr. Sven Otto, LMU München, Prof. Dr. Dr. Benedicta Beck-Broichsitter, Klinikum Stuttgart und Dr. Rolf Bublitz, Vorsitzender der Wissenschaftlichen Vereinigung für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde Stuttgart e. V. (v. l.).

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