12 Titelthema Digitalisierung E-Health: ein internationaler Vergleich Der digitale Wandel hat nahezu alle Lebensbereiche erfasst und verändert den gesellschaftlichen Alltag in revolutionärer Art und Weise. Auch im Gesundheitssektor werden die durch die Digitalisierung geschaffenen Möglichkeiten für Diagnostik und Therapie immer zahlreicher. Die intelligente Sicherung, Verknüpfung und Verarbeitung von Gesundheitsdaten soll dazu dienen, ein umfassendes Bild der Gesundheit eines einzelnen Menschen zu zeichnen und die Therapiemaßnahmen passend zur individuellen Krankengeschichte optimal zu steuern. Durch die schnelle Verfügbarkeit von Röntgenbildern, Ultraschallaufnahmen oder Medikationsplänen sollen Risiken minimiert und der Behandlungserfolg verbessert werden. Gleichzeitig sinken die Kosten und die Patienten können schneller versorgt werden – und das idealerweise grenzüberschreitend. Soviel zur Theorie. Die Realität hierzulande zeichnet dagegen ein eher trauriges Bild: Seit Jahren wird vergeblich versucht, die elektronische Gesundheitskarte einzuführen, was mittlerweile zwar Milliarden gekostet, aber noch keinen nennenswerten Vorteil gegenüber der althergebrachten Versichertenkarte geliefert hat. Zahlreiche Stimmen im Gesundheitssektor haben sich längst für ein Ende dieses Projekts ausgesprochen, auch wenn Gesundheitsminister Spahn erklärt hat, er wolle an der eGK und der TI generell festhalten. Die Stimmung in der Zahnärzteschaft ist angesichts jahrelanger Verzögerungen nahezu einhellig ablehnend. Gleichwohl kommt hier keineswegs eine pauschale Technologieskepsis zum Ausdruck als vielmehr die Enttäuschung über das jahrelange Chaos und über die zusätzliche Bürokratie und die damit einhergehenden Kosten für die Praxen. Den Befund, dass die Digitalisierung bislang überaus schleppend verläuft, bestätigte 2017 die Studie Digitalisierungsbarometer, für die Beschäftigte in Medizin, Pflege und Krankenhausverwaltung aus fünf Ländern in Bezug auf die Digitalisierung im Gesundheitswesen befragt wurden. Danach waren gerade einmal 12 Prozent der Befragten aus Deutschland der Meinung, das Gesundheitswesen sei bereits weitgehend digitalisiert. Dabei steckt so viel Potenzial in der intelligenten Vernetzung von Gesundheitsdaten: Schätzungen zufolge summieren sich allein die Kosten für unnötige Mehrfachuntersuchungen in Deutschland auf bis zu 16 Mrd. Euro jährlich – Geld, das effektiv für eine bessere Versorgung verwendet werden könnte. Die 71. Weltgesundheitsversammlung hat Ende Mai 2018 an die Mitgliedstaaten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) appelliert, den Ausbau von digitalen Lösungen im Gesundheitssektor zu forcieren. Es bleibt zu hoffen, dass solche Appelle (von Deutschland selbst mit initiiert!) zu nachhaltigen Veränderungen führen, denn dass es auch anders laufen kann, zeigt sich schon heute in verschiedenen Ländern. Estland – digitales Musterland. Digitaler Vorreiter in der Europäischen Union ist Estland. Alle der gerade einmal 1,3 Millionen Einwohner verfügen heute über eine elektronische Identitätskarte, die in beinahe jeder Lebenslage eingesetzt wird. Jährlich werden nach Angaben der Regierung mehr als 800 Jahre Arbeitszeit in der Verwaltung eingespart. Behördengänge werden unnötig, Bankgeschäfte werden darüber abgewickelt, selbst wählen können die Esten per Mausklick vom eigenen Schreibtisch aus. Und nicht zuletzt dient die Identitätskarte als Versicherungskarte und gleichzeitig als Krankenakte. Per Passwort können Patienten ihre digitale Gesundheitsakte bei Bedarf dem Arzt ihrer Wahl zur Verfügung stellen. Auch Rezepte werden längst digital ausgestellt, die dann jeder Este selbst oder durch eine autorisierte Person in jeder Apotheke des Landes mithilfe des Ausweises einlösen kann. Ein vernetztes Krankenwagensystem gehört seit Jahren zum Standard. Finnisches Gesundheitswesen. Ähnlich dynamisch und zukunftsorientiert gibt sich der nördliche Nachbar Estlands. Das Gesundheitssystem in Finnland zählt nicht nur zu den besten in Europa, beachtlich ist auch die Bilanz des Landes beim Ausbau des E-Health- Systems. Seit acht Jahren bereits werden Rezepte für verschreibungspflichtige Medikamente digital ausgestellt – im vergangenen Jahr rund 31,9 Millionen Mal. Folgerezepte werden ebenfalls über die digitale Plattform beantragt, was die Zahl der Arztbesuche reduziert ZBW 7/2018 www.zahnaerzteblatt.de
Titelthema 13 und damit zu Kosteneinsparungen führt. Dazu können die Patienten neben ihren Rezepten sämtliche Dokumentationen, Krankenakten, Laborergebnisse oder Röntgenbilder online einsehen (http://www. kanta.fi/omakanta). Die Verwendung und Offenlegung ihrer persönlichen Daten werden ebenfalls über diese Plattform gemanagt. Zudem können hier Patientenverfügungen oder die Bereitschaft zur Organspende hinterlegt werden. Hightech-Nation Niederlande. In den Niederlanden gehen eine generell hohe Technologie-Affinität und vorzeigbare Ergebnisse bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens Hand in Hand. Die Entwicklung von elektronischen Krankenakten, die Ärzten, Kliniken, Physiotherapeuten sowie Apotheken den Austausch von Patientendaten ermöglichen sollen, ist in vollem Gange. Auch die Patienten sollen mittelfristig stärker an ärztlichen Entscheidungen beteiligt werden. Zentral ist hier das System MedMij, das Patienten – zunächst als regional begrenzter Testversuch – einen digitalen Zugang zu ihren Krankenakten ermöglicht. Bis ins kommende Jahr sollen dann mindestens 80 Prozent der chronisch Kranken und mindestens 40 Prozent der übrigen Bewohner Daten wie Medikationspläne oder Untersuchungsergebnisse einsehen können. Chronisch Kranke und Senioren sollen selbst Untersuchungen wie Blutdruck-, Puls- oder Cholesterin messen vornehmen und die Daten weiterleiten können. Überdies sollen Patienten webbasiert jederzeit einen medizinischen Dienstleister erreichen können. Elektronische Lösungen auf mobilen Geräten spielen dabei eine wichtige Rolle. Der technologische Aufbruch im niederländischen Gesundheitswesen spielt sich dabei in einem überaus innovativen, investitionsfreudigen Umfeld ab, zu dem auch der Staat durch umfangreiche Förderprogramme – gerade für die Branche Life Sciences and Health – und die gezielte Vernetzung und Zusammenarbeit zwischen öffentlichen Stellen und privaten Anbietern beiträgt. Innovationen in Übersee. Auch außerhalb Europas wird die Digitalisierung im Gesundheitswesen Schritt für Schritt erfolgreich umgesetzt und damit jeden Tag medizinische Vorteile für die Patienten und gleichzeitig Kosteneinsparungen generiert, wie das Beispiel Kanada zeigt. Der Wandel wird hier begleitet durch ein starkes Engagement der Bundesregierung und der einzelnen Provinzen. In den letzten Jahren sind mehrere Milliarden kanadische Dollar an öffentlichen Geldern in entsprechende Schnittstellenprojekte wie etwa die Digitalisierung von Krankenakten geflossen – die meisten Hausärzte erfassen ihre Patienteninformationen heute elektronisch und sind darüber mit anderen Akteuren wie Klinikpersonal und Apothekern vernetzt. Und das zahlt nicht sich nur aus medizinischer Sicht aus: Dem Canada Health Infoway zufolge können so jährlich 200 Mio. Dollar eingespart werden. Ein weiterer Schwerpunkt der kanadischen Digitalisierungsstrategie im Gesundheitswesen betrifft die Vernetzung von Patienten und Personal über mobile Endgeräte mit medizintechnischen Geräten und medizinischer Infrastruktur – der Weg zum „Smart Hospital“. Das nach eigener Angabe erste vollständig digitale Krankenhaus in Nordamerika, das Humber River Hospital in Toronto demonstriert, was möglich ist, um Abläufe zu automatisieren und die Effizienz zu steigern. So ist etwa die Medikamentenausgabe vollständig automatisiert. Roboter stellen die individuellen Dosen zusammen, die dann von fahrerlosen Transportfahrzeugen an das Pflegepersonal ausgeliefert werden. Perspektiven für Deutschland. Indessen zeigt sich an diesem Beispiel, was die Digitalisierung an Vorteilen für die Menschen bringen kann. Es sollte nicht darum gehen, menschliche Kontakte zu ersetzen. Die Automatisierung von Arbeitsschritten etwa im Bereich der Dokumentation kann Ärzten und Pflegepersonal wieder mehr Zeit für den direkten Umgang mit den Patienten verschaffen. Denn bei allem technischen Fortschritt brauchen Patienten auch in Zukunft einen Ansprechpartner, dem sie sich persönlich anvertrauen können, der sie ernst nimmt und mit Empathie und Sachverstand bei Therapie, Reha und Nachsorge begleitet. Unter dieser Zielsetzung bleibt die Hoffnung bestehen, dass sich die Digitalisierung im deutschen Gesundheitswesen trotz der vielen Rückschläge noch in die richtige Richtung bewegen wird. Leise positive Signale dazu ließen sich Anfang Juni 2018 vernehmen, etwa die Fortschritte bei den Erstattungsbeträgen für den TI-Anschluss der Praxen oder der Entwurf der gematik für eine elektronische Patientenakte. Auch dass dem BMG zufolge neben des Zugangs zu Gesundheitsdaten durch eGK und Konnektor weitere Authentifizierungsverfahren wie über das Smartphone geplant seien, deutet darauf hin, dass die Verantwortlichen zumindest die Probleme der bisherigen Entwicklung erkannt haben. Wie in der (zahn-) medizinischen Praxis muss auf die richtige Diagnose nun aber dringend die nötige Therapie folgen. » holger.simon-denoix@kzvbw.de www.zahnaerzteblatt.de ZBW 7/2018
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